Fürstliche Korrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts

Fürstliche Korrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Hessisches Landesarchiv, Abteilung Staatsarchiv Darmstadt; Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt
Förderer
Kulturstiftung des Hauses Hessen
Ort
Darmstadt
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.09.2022 - 02.09.2022
Von
Ulrike Marlow, Anpassungsstrategien der späten mitteleuropäischen Monarchie am preußischen Beispiel 1786-1918, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Briefe enthalten persönliche Mitteilungen, so ist zumindest unser heutiges Alltagsverständnis vom Schriftstück Brief. In der Tagung ging es um die Fragen, welche inhaltlichen und äußeren Merkmale Briefwechsel zwischen Dynastiemitgliedern kennzeichnen und wie die in den Archiven sowohl in erschlossenem als auch in unerschlossenem Zustand liegenden Korrespondenzen für die Forschung fruchtbar genutzt werden können.

ROUVEN PONS (Darmstadt) staunte in seinen einführenden Worten darüber, dass fürstliche Briefe in den archivkundlichen Betrachtungen, wo sämtliche in Archiven befindliche Schriftstücke klassifiziert und definiert werden, bisher nur sehr oberflächlich und knapp betrachtet wurden1. Das kann sich Pons einerseits nur mithilfe der lange nachwirkenden These vom Niedergang des Adels im 19. Jahrhundert erklären und andererseits mit der Schwierigkeit der Aktenkunde, fürstliche Briefe als amtliches und damit archivwürdiges Gut zu klassifizieren. Nach einer Erinnerung an eine kleine Blüte von Editionen fürstlicher Briefe aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts2 forderte er dazu auf, diese Korrespondenzen heute mit geeigneten Handwerkszeug auszuwerten und dabei die Digital Humanities zu Hilfe zu nehmen. Ziel sollte es sein, Formen von fürstlicher Korrespondenz, übliche Grundstrukturen sowie häufige Inhalte herauszuarbeiten.

ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main) rief den Brief als traditionelles Medium bzw. Ort der Selbstinszenierung und Reflexion in Erinnerung, aber auch als eine aufschlussreiche Quelle bei der Beantwortung der Frage nach der Entwicklung von Monarchien im 19. Jahrhundert zu Medienmonarchien.

Die Vorträge der ersten Sektion vermaßen die historische Dimension von fürstlicher Korrespondenz. Die Forschungsinteressen der neuen Monarchiegeschichte liegen besonders auf Verfassungen, Öffentlichkeit und Medien sowie auf der Kommunikation, resümierte FRANK-LORENZ MÜLLER (St. Andrews). Er plädierte dafür, dass die Monarchiegeschichte die aktive Rolle der Monarchen und ihrer engen Umgebung wieder mehr in Betracht nehmen solle, wofür sich die Analyse von Egodokumenten wie Briefen eigne. Müller sah es kritisch, dass (konstitutionelle) Monarchen des 19. Jahrhunderts in der neuen Monarchiegeschichte zu sehr als „Grüßonkel“ interpretiert würden und einflussnehmende Monarchen wie Kaiser Wilhelm II. oder König Ludwig II. von Bayern dann vielleicht zu vorschnell als anachronistisch klassifiziert werden. Der fürstliche Brief sei vor allem ein Gebrauchsgegenstand zwischen Absender:in und Empfänger:in gewesen und dürfte wesentlich zur Neustiftung einer Identifikation als eigene soziale Gruppe gedient haben, die einem hohen Anpassungsdruck ausgesetzt war, wie das Silke Marburg gezeigt hat3.

OLIVER AUGE (Kiel) warf einen Blick auf die Praxis des Briefschreibens im Mittelalter und den dazugehörigen Forschungsstand. Damit gab er eine Vergleichsfolie für die folgenden Vorträge, die allesamt Briefe des 19. Jahrhunderts untersuchten. Auge erinnerte daran, dass das alte Postulat der Blütezeit des Briefeschreibens im 18. und 19. Jahrhundert die Kommunikationsrevolution des Mittelalters vernachlässige. Um 1500 kam es zu einer neuen Briefform: der Empfänger wurde als Außenadresse genannt, Textbereiche wurden stärker gegliedert, die Position der Unterschrift spiegelte die soziale Hierarchie wieder. Sprache, Schrift, Schriftträger (beschriebenes Material) und Bote wirkten sich in ihrem Zusammenspiel auf die Bedeutung der Nachricht aus. Eigenhändige Briefe stellten noch eine Ausnahme dar, es wurde vielmehr Schreibern oder Hofdamen diktiert, und empfangene Briefe wurden laut vorgelesen. Eigenhändige Briefe galten daher als besonders wertschätzend gegenüber dem Empfangenden. Das „Du“ breitete sich im 16. Jahrhundert als Novum zwischen ranggleichen männlichen, eigenhändigen Briefschreibern aus. Zuvor wurden nur Rangniedere geduzt, wie die Ehefrauen. Zudem sei festgestellt worden, dass bis zum 16. Jahrhundert vor allem Frauen Briefe verfasst und genutzt hatten und erst im 16. Jahrhundert in einem ähnlichen Maße Briefe von Männern hinzukamen. Der seit den 2000er Jahren etablierte Begriff der Familien- und Freundschaftsbriefe, der auf Claudia Nolte zurückgeht, verwirft den problematischen Begriff des Privatbriefes für das Mittelalter. Inhaltliche Merkmale der Familien- und Freundschaftsbriefe sind u.a. der Austausch über Verwandte, Freunde aber auch Feinde sowie Mitteilungen und Wünsche zur Gesundheit.

In der zweiten Sektion wurden Versand und Transport, formale Eigenschaften sowie Selbstinszenierung in fürstlicher Korrespondenz beleuchtet. KLAUS BEYRER (Karlsruhe) bot einen rasanten Überblick über die Entwicklung des Postversands im 19. Jahrhundert. Das Briefaufkommen hatte sich zwischen 1800 (200 zugestellte Briefe pro Tag in Berlin) und 1900 (800 Briefe pro Tag) erheblich gesteigert. Tendenziell kam es im 19. Jahrhundert zu einer Verstaatlichung des Postwesens. Verwaltungsstrukturen, Nutzung der Dampfeisenbahn für schnelleren Versand und Bemühungen um übersichtlichere Tarife begleiteten diesen Prozess, aber auch die Briefzensur in der Ära Metternichs. Für fürstliche Korrespondenz galt im 19. Jahrhundert Portofreiheit, die für Landesfürsten, Hofstaaten, Minister sowie manche Beamte galt und sich auf Vereine ausdehnte. Gestiegene Einnahmeverluste seitens der Post führten 1870 zu einer Begrenzung der Portofreiheit im Norddeutschen Bund auf die Monarchen, ihre Ehefrauen und Witwen. Die technischen Entwicklungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Briefmarke, Briefkästen) trugen zur Zunahme von Postsendungen bei. Dennoch bestand bei den Nutzenden ein Misstrauen in die Zuverlässigkeit der Post. Davon zeugen fortlaufende Nummerierungen in den Briefen oder die Angabe, welche Briefe erhalten und beantwortet wurden, sowie weiterhin der Rückgriff auf eigene Boten.

KARSTEN UHDE (Marburg) brachte die Sicht eines Archivars auf die Form von fürstlichen Briefen ein. Grundsätzlich sei die Definition und Merkmalszuweisung zu fürstlichen Briefen schwierig, weil es keine Terminologie für privates Schriftgut gebe und die polare Gliederung von Archiven in privates und dienstliches Schriftgut bei fürstlicher Korrespondenz ein Dilemma aufwerfe. Anhand von aktenkundlichen Klassifizierungen können fürstliche Briefe entweder der Kategorie der amtlichen Fürstenschreiben oder der Kategorie der Privatkorrespondenz zugewiesen werden. Unter amtlichen Fürstenschreiben werden Schreiben zwischen Ranggleichen verstanden, die keine privat-dienstlichen Inhalte aufweisen. Zu ihnen zählen Kanzleischreiben, Handschreiben und Notifikationsschreiben als Kanzlei-, Hand- oder Privatbriefschreiben aus Anlass von dynastischen Ereignissen (Geburt, Taufe, Hochzeit, Tod). Reine Privatbriefe zeichnen sich durch die vertrauliche Anrede mit „Du“ aus und sind im 19. Jahrhundert eigenhändig – eine genauere Unterscheidung sei gegenwärtig terminologisch und formal nicht möglich.

Briefe dienen zur Konstruktion einer sozialen Rolle, und der Adressat bzw. die Adressatin fungiert oft als Co-Autor:in des Briefs. Diese Form von Selbstinszenierung zeigte ROUVEN PONS (Darmstadt) anhand der Korrespondenz und Lebensgeschichte von Erzherzog Stephan (1817–1867). Stephan, aus der ungarischen Seitenlinie der Habsburger, war 1843 Landeschef von Böhmen und seit 1847 Palatin von Ungarn. Er musste im Zuge der 1848er Revolution das Amt als Palatin niederlegen und lebte in Schaumburg im Exil, wo er von den Habsburgern gemieden wurde und an Renommee verlor. Erst 1858 wurde er von Wien wieder sukzessive in die Habsburgerdynastie eingebunden. Diese Zurücksetzung, so Pons, schmerzte Erzherzog Stephan, und er versuchte sich selbst zu rehabilitieren. Äußerungen in seinen Briefen, sie würden von Beamten der Habsburgermonarchie mitgelesen, verweisen auf Stephans Aufbegehren gegen seinen Status. Stephan hatte nicht nur den Adressaten, sondern auch mögliche Mitleser bei seinen Mitteilungen im Blick, und er war gewiss, dass seine Briefe ins Hausarchiv kommen würden. Daher seien seine Briefe nicht als vertrauliche Mitteilungen zu verstehen, sondern vielmehr als öffentliche Mitteilungen. Die sehr auffällige regelmäßige Handschrift von Erzherzog Stephan versinnbildlicht seine glatte Oberfläche und spreche für den Aufbau einer äußeren Fassade, mit der er sich selbst über die hinterlassenen Briefe ein Denkmal als unschuldig Verbannter setzen wollte.

Die dritte Sektion bot zwei Berichte, wie Korrespondenzen von Frauen – einmal von einer Adligen und einmal von einer Monarchengattin – archivalisch erschlossen oder auch digitalisiert verfügbar und somit für die historische Forschung nutzbar gemacht werden können. GUDRUN GERSMANN (Köln) hat mit ihrem Projektteam 11.000 Briefe von Constance de Salm (1767–1845) digitalisiert, mit Metadaten erschlossen und online verfügbar gemacht4. Die Eheschließung mit Joseph zu Salm-Reifferscheid-Dyck 1802 führte für Constance de Salm dazu, dass sie fortan die eine Jahreshälfte in Paris lebte und die andere im Schloss Dyck am Niederrhein. Es entwickelte sich also ein Briefwechsel zwischen den Pariser Intellektuellenkreisen, denen Constance angehörte, und dem niederrheinischen Adelssitz. Gersmann skizzierte künftige Forschungsperspektiven, die sich aus diesem umfangreichen Material ergeben: Die Funktionsweise von Netzwerken und Patronage sei in diesem Konvolut nachvollziehbar, ebenso wie die Bemühungen von Constance de Salm, ihr Selbstbild für die Nachwelt zu prägen und um die Anerkennung von weiblicher Autorenschaft zu kämpfen.

KATJA DEINHARDT (Weimar) berichtete wie sie den mit 60 laufenden Metern umfangreichsten Nachlass von Maria Pawlowna (1786–1859) im Großherzoglichen Hausarchiv, das zum Hauptstaatsarchiv Weimar gehört, erschließt und welche Herausforderungen das birgt. Im Teilbestand „Korrespondenzen“ befinden sich, wie es die Betitelung vermuten lassen würde, keineswegs nur Briefwechsel. Darin werden zahlreiche Bittschriften an Maria Pawlowna als Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach verzeichnet, aber auch Begleitschreiben (Widmungen, Gedichte), 225 Konvolute von Berichten und schließlich Briefwechsel. Deinhardt betonte die Unsortiertheit des Nachlasses und fragte sich, warum die darin befindlichen Akten im 19. Jahrhundert als Korrespondenz abgelegt wurden. Denn nur ein kleiner Teil entspreche der Briefdefinition von Irmtraut Schmid, wonach Briefe von persönlichem Austausch zwischen zwei Personen zeugen5. Die eigentlichen Korrespondenzen zeigen, wie sich Maria Pawlowna über persönliche Briefnetzwerke ausgiebig über das Geschehen und die Gesundheit an anderen Höfen informierte – so wie das später ihre Tochter Kaiserin Augusta auch tat.

Wilhelmine von Baden, Großherzogin von Hessen und bei Rhein (1788–1836) korrespondierte nicht nur mit ihren Geschwistern, Nichten und Neffen, sondern auch mit vertrauten Hofchargen aus ihrem Hofstaat. Die dabei nachvollziehbaren Patronagebeziehungen zeichnete LUPOLD VON LEHSTEN (Bensheim) nach. So war die Hofdame Karoline von Freystedt für Wilhelmine die wichtigste Informantin zum Leben am Karlsruher Hof geworden, nachdem ihre Mutter Amalie von Baden (1754–1832) verstorben war. Lehsten konnte aus den Briefen von Wilhelmine mit ihrem Umfeld und den Karrierestationen mancher ihrer Hofchargen Patronagebeziehungen verdeutlichen, etwa wenn Hofchargen mit Nachkommen aus den morganatischen Linien der Häuser Baden und Wittelsbach verheiratet wurden.

In der vierten Sektion standen die Briefwechsel von Monarchen und Monarchengattinnen aus Mexiko und Preußen sowie die intellektuelle Korrespondenz einer Adligen mit einem Dichter im Fokus. Zugleich zeigten Thomas Just und Christine Klössel den Umgang ihrer Archive mit überlieferten fürstlichen Korrespondenzen auf. THOMAS JUST (Wien) berichtete aus dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, wo das Archiv von Kaiser Maximilian von Mexiko (1832–1867) verwahrt und gerade neu erschlossen wird. Maximilian war der jüngere Bruder von Kaiser Franz Joseph und hatte aus innerem Geltungsdrang 1864 die mexikanische Kaiserwürde angenommen. Das Mexiko-Projekt stand von Anfang an unter ungünstigen Vorzeichen und endete für Maximilian am 19. Juni 1867 mit seiner Erschießung in Querétaro. Sein Archiv gelangte 1868 von Schloss Miramar bei Triest, das er sich als Oberbefehlshaber der österreichischen Kriegsmarine hatte erbauen lassen, nach Wien ins Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Dieses Archiv gliedert sich in zwei Teile: das mexikanische Archiv mit 58 Kartons und den Teil Miramar. Insgesamt befinde sich dieses Konglomerat in keinem guten Ordnungszustand und sei derzeit nur über alte Findmittel zugänglich, welche die Kriegsverluste des Zweiten Weltkriegs nur unzureichend wiedergeben. Die größte Herausforderung stellt dabei die erstrebenswerte tiefere inhaltliche Erschließung des Materials unter Beachtung der unterschiedlichen Ansprüche der Nutzer dar, erläuterte Just. Die Korrespondenz von Maximilian mit seiner Ehefrau Charlotte von Belgien verwahrt das Harry Ransom Center in Texas6.

CHRISTINE KLÖSSEL (Eichenzell) beschrieb die Aufbewahrung der Korrespondenz des preußischen Kronprinzenpaares Friedrich (III.) Wilhelm (1831–1888) und Victoria von Großbritannien (1840–1901) im Archiv des Hauses Hessen. Das Ehepaar stand sich sehr nahe und schrieb sich bei räumlicher Trennung täglich, sodass ungefähr 3.500 Briefe überliefert sind. Diese Briefe wurden bereits seit 1858, also noch im Jahr der Eheschließung, in Alben aus rotem Maroquinleder eingebunden, die mit einem Schloss geschützt waren. Als Kaiserinwitwe sammelte Victoria auf ihrem Witwensitz Schloss Friedrichshof ihre Schriftstücke, darunter auch jene Korrespondenz, die sie an ihre Tochter Margarethe Landgräfin von Hessen (1872–1954) vererbte. Victoria beabsichtigte mit diesem Erbgang eine Entschädigung des kurfürstlich hessischen Hauses, das 1866 von Preußen entmachtet worden war.

Die 22.086 Briefe umfassende Korrespondenz von Kaiserin Augusta (1811–1890), die sie mit insgesamt 489 Briefpartnerinnen und Briefpartnern führte, untersucht SUSANNE BAUER (Trier). In Augustas Korrespondenz mit Fürstinnen und Fürsten falle die Verwandtschaft auf sowie eine Ebenbürtigkeit, die mit Silke Marburgs Begriff „Verwandtschaftlichkeit“ gut zu beschreiben sei. Verwandtschaftlichkeit sowie tatsächliche Verwandtschaft nutzte Augusta bei der beständigen Kontaktpflege. Inhaltlich interessant sind bei den Briefen familiäre Nachrichten, bei denen kaum zwischen privatem und politischem Bezug zu trennen sei. Augustas Korrespondenzen waren in ein größeres Briefnetzwerk eingebunden und stellten keine rein bilaterale Kommunikation dar. Ihre Briefe boten Augusta und ihren Briefpartnerinnen und -partnern die Möglichkeit, sich inoffiziell und vertraut gezielt zu informieren und abzustimmen. Damit gelang es Augusta einerseits, eine eigene politische Agenda zu verfolgen, andererseits bot sich ihr in diesem Kommunikationsnetzwerk überhaupt die Möglichkeit, Macht auszuüben, die sie aufgrund ihres weiblichen Geschlechts rein formal in der preußischen Monarchie nicht besaß.

Die 461 Briefe zwischen Marie von Thurn und Taxis (1855–1934) und Rainer Maria Rilke (1875–1926) verdeutlichen nicht nur die menschliche Beziehung zwischen den Korrespondierenden, sondern können zum Entstehungsprozess literarischer Werke beitragen, wie CHIARA CONTERNO (Bologna) zeigte. In ihren Briefen unterhielten sich Rilke und seine Gönnerin nicht nur über den Entstehungsprozess seiner Werke oder über ihre jeweiligen Lektüren, sondern Marie von Thurn und Taxis diskutierte mit Rilke auch ihre Übersetzungen seiner Gedichte ins Italienische. In dem Briefwechsel der beiden liegen verschriftliche Denkprozesse vor, die mit literarischem Schaffen einhergehen. Diskutiert wurde, wie gleichberechtigt dieser „Arbeitsbriefwechsel“ war, da sich die beiden in Geschlecht, Alter und Sozialstatus unterschieden: Rilke wollte als jüngerer Mann mit seinen kritischen und scharfen Leseerfahrungen die ältere Frau Marie von Thurn und Taxis als Mentor bei ihrer Lektüre leiten.

Schlaglichter auf Themen und Formen fürstlicher Korrespondenz nach dem Ende der deutschen Monarchien 1918 warfen die letzten beiden Vorträge der fünften Sektion. Der letzte bayerische Kronprinz Rupprecht (1869–1955) hatte im Ersten Weltkrieg die 6. Armee an der Westfront befehligt und war ab 1916 überzeugt, dass dieser Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen war, was ihn in Konflikt mit Falkenhayn und Hindenburg brachte. GERHARD IMMLER (München) rekonstruierte anhand des Briefwechsels zwischen Rupprecht und seinem ehemaligen Generalstabschef, wie er nach 1918 die deutsche Kriegsniederlage bewertete. Paul von Hindenburg erhob in seinen 1920 erschienen Memoiren Vorwürfe gegen Rupprecht und das von ihm befehligte Armeekommando,7 die in den Militärfachzeitschriften in den 1920er Jahren diskutiert wurden. Öffentlich hielt sich Rupprecht mit seiner Sicht der Dinge auf die Kriegsniederlage zurück, thematisierte dies und seine Selbstverortung jedoch in seinen Briefen der 1920er und 1930er Jahre. Es gab auch Überlegungen, diesen Briefwechsel Rupprechts bzw. seine Ansichten zur Vorkriegspolitik und zum Ersten Weltkrieg zu veröffentlichen.

RAINER MAASS (Darmstadt) stellte eine interessante briefliche Kommunikationsform der Großherzogin Eleonore von Hessen (1871–1937) vor. Mit ihren Schwestern unterhielt sie nach 1918 sogenannte Sammelbriefe, die – ähnlich einer heutigen Rundmail, aber eben nicht zeitgleich – nacheinander von der einen zur nächsten gingen. Ein derartiger Brief brauchte anderthalb bis zwei Monate, ehe er alle Teilnehmerinnen des Briefzirkels erreicht hatte und bei der ursprünglichen Absenderin zurück war. Eleonore heftete ihre eigenen Briefe in Mappen ab. Maaß stellte diese Briefe als eine reiche Quelle für die Handlungsfelder des hessischen Großherzogspaares nach ihrer Absetzung 1918 dar, wobei er insbesondere die Versuche herausstellte, stärkeren kulturellen und politischen Einfluss im Volksstaat Hessen zu gewinnen.

Viele Vorträge der Tagung versuchten, zu einer genaueren archivkundlichen Klassifizierung fürstlicher Briefen im 19. und 20. Jahrhundert zu kommen, indem empirisch beobachtete formale und inhaltliche Merkmale sowie Nutzungszwecke dieser Korrespondenzen zusammengetragen wurden. Es erstaunte, von archivarisch unerschlossenen und damit unerforschten fürstlichen Korrespondenzen zu hören, die nicht nur von Prinzen und Prinzessinnen aus der zweiten Reihe stammen. Zugleich wurden Ansätze und Ideen zur Auswertung dieser reichhaltigen Quelle angesprochen, die erwartungsfroh in die künftige Monarchieforschung zum 19. Jahrhundert blicken lassen.

Konferenzübersicht:

Grußworte
Rouven Pons (Darmstadt), Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main), Donatus Landgraf von Hessen

Sektion 1: Die historische Dimension fürstlicher Korrespondenz

Frank Lorenz Müller (St. Andrews): Fürstliche Korrespondenz: Blick durch das Schlüsselloch oder seriöse Historiographie?

Oliver Auge (Kiel): Wenn Fürsten Briefe schreiben. Zur fürstlichen Korrespondenz im Mittelalter und ihrer Erforschung

Sektion 2: Was ist und wie funktioniert fürstliche Korrespondenz?

Klaus Beyrer (Karlsruhe): Briefe und ihre Übermittlungstechnik im langen 19. Jahrhundert

Karsten Uhde (Marburg): Formen fürstlicher Korrespondenz im 19. Jahrhundert

Rouven Pons (Darmstadt): Briefe wie Opium? Verschleierung und Selbstoffenbarung in den Briefen des Erzherzogs Stephan

Sektion 3: Fürstliche Korrespondenz im Vormärz

Gudrun Gersmann (Köln): Zwischen Paris und Rheinland. Die Korrespondenz der Constance de Salm

Katja Deinhardt (Weimar): Russische Großfürstin und Weimarer Großherzogin: Der Briefwechsel Maria Pawlownas von Sachsen-Weimar-Eisenach

Lupold von Lehsten (Bensheim): Politik der Korrespondenz? Das Beispiel der Großherzogin Wilhelmine von Hessen

Sektion 4: Fürstliche Korrespondenz im Zeitalter der Nationalstaaten

Thomas Just (Wien): Die Korrespondenz des Kaisers Maximilian von Mexiko

Susanne Bauer (Trier): Eine große Familie? Der europäische Briefwechsel der Kaiserin Augusta

Christine Klössel (Eichenzell): Die Korrespondenz Kaiser Friedrichs III. mit seiner Frau Victoria

Chiara Conterno (Bologna): Briefe als Laboratorien des Denkens. Die Korrespondenz der Prinzessin Marie von Thurn und Taxis mit Rainer Maria Rilke

Sektion 5: Fürstliche Korrespondenz nach 1918

Gerhard Immler (München): Die Korrespondenz des Kronprinzen Rupprecht von Bayern zur Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs

Rainer Maaß (Darmstadt): Handlungsspielräume nach der Revolution. Die Sammelbriefe der Großherzogin Eleonore von Hessen 1919–1937

Anmerkungen:
1 Vgl. Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Göttingen 1969; Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Wien 2009, S. 45–46; Irmtraut Schmid, Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus „Brief“ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung, in: Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft, Bd. 2 (1988), S. 1–7.
2 Vgl. Johann Georg Herzog zu Sachsen (Hrsg), Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, Leipzig 1911; Franz Schnürer (Hrsg.), Briefe Kaiser Franz Josephs I. an seine Mutter 1838–1872, München 1930.
3 Silke Marburg, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008.
4https://constance-de-salm.de/ (Aufruf am 11.10.2022).
5 Vgl. Schmid, Was ist ein Brief, S. 5.
6https://hrc.contentdm.oclc.org/digital/collection/p15878coll71 (Aufruf am 11.10.2022).
7 Paul von Hindenburg, Aus meinem Leben, Leipzig 1920.

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